Die Notwendigkeit glücklichen Strebens

Il ne faut plus qu’on poursuivre le bonheur.

„Siehst du Ihn?“
„Wer sieht Ihn?“
„Genau das, genau das ist sein Problem, er sieht sich noch nicht mal selbst.“
„Im Grunde genommen ist er eigentlich ein armer Kerl.“

Schon wieder Wochen her aber dieser letzte Satz spukte tagelang in meinem Kopf. Aus mir heraus, über mich, in der dritten Person. Verurteilung von einem Aussenstehenden, der ich selbst bin. Eigentlich unhöflich mir selbst gegenüber, von mir in meinem Kopf – also quasi während ich ja anwesend bin, in der dritten Person zu sprechen. (Und wir reden hier noch nicht einmal vom königlichen „Wir“.) Da richtet also jemand über mich, aller Wahrscheinlichkeit nach ich selbst und sprüht feinen Nebel Mitleid; wenn ja, dann bitteschön Selbstmitleid in d-moll und das ist ja dann fast schon widerlich.

Vorlesungen beginnen wieder, 2. Fachsemester und ich mäandere umher, finde keinen Tritt und Applaus und Anschluss, am Unileben, an den Menschen; finde keine Begeisterung für mein Fach, irgendwas, das mich motivieren würde und einen Sinn gäbe, morgens aus dem Bett zu fallen. Gehe dorthin – alleine, jeden Tag, eine repetetive One-Man Freakshow, ein Abenteuer in Superpathos. Mein Körper zappelt ohne Okay vom Hauptquartier herum und sitzt allein in einem überfüllten Raum, gemeinsam einsam mit einer dösenden Hundertschaft in den Vorlesungen. Nein, das ist nicht „allein“, das ist viel schlimmer; gefühlte drei Milliarden Kilometer weg vom Nächsten zu sein, mal zwei, drei flüchtige Worte, man tätschelt sich nur oberflächlich und nach den Vorlesungen und Seminaren ziehen alle ab wie Feuerwerksfunken, wie Sternschnuppen, ein Jeder in eine andere Richtung, verschwinden in der Allschwärze des Alltags. Mädels sind hier in der Mehrzahl, vielleicht 80% Frauenquote; sie habe ihre Gruppen, fließen zusammen wie feinste Quecksilbertropfen zu einer Pfütze, da sind sie eben doch schneller und gewiefter als die Jungs. Mich stört das nicht, ich komme gut mit ihnen klar, bleibe aber gewollt aussen vor. Manchmal tritt blitzender Skeptizismus in ihren Blicken hervor, wenn ich mich mit einer einfachen Frage an sie richte: „Will der jetzt was von mir oder will der jetzt wirklich was von mir?“

Mit den meisten Kerlen meines Fachs kann ich nichts anfangen, das sind entweder verhutzelte und verkrumpelte Raucher, die nur in die Sonne gehen, weil dort die Aschenbecher stehen; verschrobene, verkopfte Bleichgesichter, deren Rücken vom zu lange in der Bibliothek sitzen krumm sind und deren Haut dünn und brüchig ist wie das Papier der alten Bücher selbst, über die sie so lange die Köpfe senkten. Oder ich versuche unglückliche Verbindungen mit meterweit aufgeblasenen Egos herzustellen, um die herum große testosteroide Hormonwolken wabern; die so viel Gel in den Haaren haben, dass kleine Fliegen drin kleben bleiben. Von letztere Spezies gibt es zum Glück nicht sehr viele an dieser Fakultät. Die Geisteswissenschaften kommen noch weitestgehend ohne Pomade im Haar aus.

Die wenigen Nochmenschen dort sind also ok, meistens stehe ich jedoch neben den Dingen und denke mir, dass ich da so gar nicht dazu gehöre. Jetzt jemanden zu haben, der mit mir studiert, wäre schön. Das ist kein dusselig bekacktes Gefühlsgeschmalze, das ist ein ernsthafter Appell. Zusammenarbeit in der Gruppe hilft enorm, mal denkt der eine an einen bevorstehenden Termin, den man selbst verschwitzt hätte; ein anderer nimmt einem die Unterlagen für einen Kurs mit, den man vielleicht verschlafen hat, und so weiter. Die Last wird eben aufgeteilt. Aber so schleppe ich immer alles alleine in meinem Kopf herum: Welche Prüfung steht wann und wo an? Wie melde ich mich für einen Kurs an? Und ständig das Gefühl etwas übersehen zu haben. Das ist der Nachteil einer so großen Uni, man säuft schnell im Massenbetrieb ab. Mittlerweile fühlt es sich nach Routine an, aber gewöhnt habe ich mich daran noch immer nicht.

Und dann diese eklatante Angst unabdingbarer Endgültigkeit. Schaffe ich es nicht, was mache ich dann? Kein Plan B, keine Alternative; Mensch, du bist 30, wo geht’s hin? Und ich will die Familie glücklich sehen und die Freundin, weil ich weiß, dass es ihnen gut geht, wenn es mir gut geht. Aber das tut es nicht und verstellen kostet auf Dauer ganz schön Kraft. Und weiß, dass das Quatsch ist, also die Schwarzmalerei und von wegen keine Optionen. Ich sollte die Möglichkeiten sehen, die ich habe; so unendlich vieles, das ich erreichen könnte. Doch dieser zähschwarzige Konjunktiv, ich könnte, ich sollte und: mach ich was? Ändere und plane ich was? Was macht der Navigator dort oben auf der Brücke meines Lebensdampfers eigentlich, und noch weiter droben der große Fährmann? Da schlendere ich so vor mich hin, suche den Weg des geringsten Widerstandes. Die letzten Jahre an der Schule, wo ich mein Abitur nachholte taten gut, weil ich da eine Bestimmung hatte, gemocht und gebraucht wurde. Das rettete mir das Leben, aber in Wirklichkeit überbrückte es nur etwas, das jetzt wieder zum Vorschein kommt. In mir herrscht ein basaler spiritueller Mangel, ein Loch in meiner Seele.

Ein adäquates Mittel unserer Zeit ist es, so ein Loch vorübergehend mit Konsumgütern zu stopfen:
Das Nichterfüllte wird auf ein Objekt übertragen, das solange es unerreicht bleibt ein Leitmotiv der Begeisterung darstellt. Es übernimmt die materielle Ersatzfunktion für den Prozess geistiger Seinswerdung, es behindert und blockiert uns an der innerlichen Charakterbildung. Hält man das vermeintliche Glück dann in Händen, muss man sich etwas neues suchen. Das Alte verliert seinen Glanz, es ist nicht mehr interessant, es kann nicht mehr den Befriedigungszweck erfüllen, weil es erreicht wurde. Ein neues Objekt wird auserkoren und so geht es weiter und weiter und weiter, bis wir ganz verbraucht und kurzatmig im Zustand höchsten Unglücks verhangen sind, denn der eigentliche Kern blieb während der ganzen tumben Streberei stets unbefriedigt. Weil sich das Seelenloch nicht mit etwas Materiellem stopfen lässt, denn Dinge sind endlich und vergehen. Und die besten Dinge im Leben sind gar keine Dinge. Das ist die Karotte vor der Nase des Esels, der den Karren zieht: die Dinge niemals zu erreichen, die wir eigentlich erreichen wollen; in permanenter Suche nach unendlichem Spaß.

Dabei ist es vielmehr eine Mangelernährung der Wesenheit Mensch, die als Notwendigkeit glücklichen Strebens das Erreichen maximaler Ichsucht zum Ziel gesetzt hat. Der Konsumismus um uns herum findet nur statt, weil sich Menschen gerne mit fragilen Ersatzbefriedigungen abspeisen lassen und vor lauter Verstelltsein gar nicht durchblicken können zum wahren Kern ihrer Bedürfnisse. Was ist der Mensch also? Fremdbestimmt von Ideologien und Repräsentanten einer fragwürdigen Gesellschaft, ein Wesen ohne Sinnperspektive? Ist die menschliche Existenz immer nur abhängig von Umständen, die außerhalb liegen? Oder ist er doch ein willensfähiger Charakter, ein Navigator eben, der allerhöchstens hin- und wieder Instruktionen des großen Fährmanns von noch weiter oben empfängt, ansonsten aber selbständig entschließt, gegen welchen Eisberg er die Kiste donnert?

Ich muss Seelenfutter finden, sonst krepiere ich.

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